Im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (MWIDE NRW) hat das IFH KÖLN in der Studie „Zukunft des Handels – Zukunft der Städte“ den Status quo und die Perspektiven des innerstädtischen Handels in Nordrhein-Westfalen untersucht. Fazit: Stadt und Handel haben sich in den letzten Jahren gewandelt und werden sich weiter wandeln müssen. Denn Innenstädte, Quartiere, Stadtteil- und Ortszentren leiden vielerorts unter niedrigen Besucherfrequenzen, kurzen Verweildauern und wenigen Geschäftsbesuchen. Treiber dieser Entwicklungen sind vor allem Veränderungen im Einkaufsverhalten der Konsument:innen – Versorgungskäufe werden zunehmend in das Internet verlagert und insbesondere Jüngere finden immer seltener den Weg in die City. Doch wie lässt sich die Attraktivität innerstädtischer Handelsstandorte erhöhen, um Konsument:innen (wieder) zum Besuch und Verweilen zu motivieren?
Multifunktionalität konsequent ausbauen
Neben der Aufenthaltsqualität mit Ambiente/Flair, Erlebniswert und Bequemlichkeit ist die Angebotslandschaft entscheidend für die Attraktivität eines Handelsstandorts. Besonders hoch ist hierbei der Stellenwert des Einzelhandels. Doch dieser wird die von ihm benötigten Besucherfrequenzen in seiner gegenwärtigen Form außerhalb der Nahversorgung immer seltener sicherstellen können.
Um Konsument:innen altersgruppenübergreifend (zurück) in die Zentren zu holen und zum Verweilen anzuregen, sind dort neben „Einkaufen/Shopping“ verstärkt auch andere (potenzielle) Besuchsmotive zu bedienen. Und die Konsument:innen haben ein klares Bild davon, was sie (zukünftig) erwarten: Multifunktionalität, also die Kombination unterschiedlicher Nutzungsarten, wie beispielsweise Handel, Gastronomie, Freizeit-, Kultur-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. In Großstädten steht dabei vor allem Shopping und Gastronomie im Vordergrund. In Klein- und Mittelstädten ist es eher der tägliche Einkauf. Das überrascht zunächst einmal nicht, vielmehr ist es die Fülle an gewünschten Funktionen, die Innenstädten, Quartieren, Stadtteil- und Ortszentren zugeschrieben werden. Hervorzuheben hierbei: Die hohe Bedeutung, die (konsumfreien) Verweil-, Freizeit- und Interaktionszonen sowie dem Thema Wohnen beigemessen wird. Überspitzt ausgedrückt heißt dies, dass sich die Standorte von monofunktionalen Einkaufsräumen zu multifunktionalen Lebensräumen entwickeln müssen.
Multifunktionale Lebensräume aufwerten: Sauber. Sicher. Grün.
Die Aufwertung klassischer Handelsstandorte zu multifunktionalen Lebensräumen folgt keiner universell einsetzbaren Blaupause, vielmehr muss sich die Standortoptimierung stets an den standortspezifischen, lokalen Gegebenheiten orientieren. Dennoch liefert eine Klassifizierung nach den Basis-, Leistungs- und Begeisterungsanforderungen der Konsument:innen Hinweise zur standortübergreifenden Priorisierung von Maßnahmen:
- Basisanforderungen müssen erfüllt werden: Mängel in diesem Bereich sind zwingend zu beseitigen. Hierzu zählen mit Sauberkeit, Sicherheit, Orientierung und Bequemlichkeit insbesondere Defizite im Bereich der Aufenthaltsqualität sowie die Erreichbarkeit.
- Bei Leistungsanforderungen sollte gepunktet werden: Defizite in diesem Bereich sollten – im Vergleich zu relevanten Wettbewerbsstandorten – mindestens ausgeglichen, besser überkompensiert werden. Zu den klassischen Leistungsanforderungen zählen vor allem Multifunktionalität, Angebotsvielfalt und Angebotsqualität sowie daran anknüpfende Services.
- Mit Begeisterungsanforderungen kann überrascht und begeistert werden: Werden die Basisanforderungen erfüllt und punktet ein Handelsstandort im Vergleich zu anderen Handelsstandorten bei den Leistungsanforderungen, können Akzente im Bereich der Begeisterungsanforderungen zur weiteren Profilierung im Standortwettbewerb beitragen. Geeignet hierfür sind beispielsweise Merkmale, die den Erlebniswert eines Handelsstandorts unterstreichen (z.B. gestalterische Besonderheiten, neuartige Flächenkonzepte, einzigartige Veranstaltungen/Veranstaltungsreihen, Maßnahmen zur Standortinszenierung wie City-Walks, Selfie-Points etc.).
Während Basisanforderungen in Handelsstandorten jedweder Stadt- und Standortkategorie gänzlich zu erfüllen sind, wächst die Bedeutung von Leistungs- und Begeisterungsanforderungen tendenziell mit zunehmender Stadt- bzw. Standortgröße. Und: Infolge von Gewöhnungseffekten und veränderten Rahmenbedingungen können sich Begeisterungsanforderungen im Zeitablauf zu Leistungsanforderungen und schließlich zu Basisanforderungen entwickeln.
Werden Konsument:innen danach befragt, in welchen Bereichen Städte und Gemeinden zum Zwecke der Attraktivitätssteigerung und Vitalisierung der Innenstädte und Ortszentren aktiv werden sollten, nennen auch sie vornehmlich als Basisanforderungen kategorisierte Aspekte rund um Aufenthaltsqualität und Erreichbarkeit. Ganz oben auf der Prioritätenliste: Sicherheit, Sauberkeit, Leerstandsvermeidung/-beseitigung und das Thema Stadtbegrünung.
Paradigmenwechsel notwendig: Zielgruppenspezifische Ansprache und Angebote
Innenstädte, Quartiere, Stadtteil- und Ortszentren sind angesichts des wachsenden Kanal- und Standortwettbewerbs konsequenter denn je unter dem Primat der Anforderungen, Interessen und Verhaltensweisen der Konsument:innen weiterzuentwickeln. Vielerorts ist ein entsprechender Paradigmenwechsel erforderlich: Weg von der Angebotsorientierung – hin zur Kundenzentrierung mit ihrer strikten Nachfrage- und Zielgruppenorientierung. Dabei sind die verschiedenen Perspektiven innerhalb der heimischen Bevölkerung, beispielsweise der Älteren und der Jüngeren, sowie der auswärtigen Besucherinnen und Besucher nachdrücklich zu berücksichtigen. So führen beispielsweise zwei Drittel der über 50-Jährigen „Einkaufen/Einkaufsbummel“ als Grund für ihren Innenstadtbesuch an, während dies in der Gruppe der unter 26-Jährigen lediglich 50 Prozent tun. Insbesondere für Jüngere verliert der innerstädtische Handel – zumindest in seiner gegenwärtigen Form – augenscheinlich an Anziehungskraft. Das Durchschnittsalter der Innenstadtbesucherinnen und -besucher ist in den vergangenen Jahren dementsprechend fortlaufend gestiegen. Und Jüngere empfehlen Freunden und Bekannten den Besuch einer Innenstadt deutlich seltener als Ältere dies tun. Auch bewerten sie Innenstädte im Hinblick auf wichtige Attraktivitätsfaktoren (z.B. Erlebniswert, Einzelhandelsangebot im Bereich Fashion, Freizeit- und Kulturangebot) im Durchschnitt kritischer als Ältere.
Zusammenarbeit: Handlungsfähige und resiliente Strukturen schaffen – Konsumentenpartizipation sicherstellen
Wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Weiterentwicklung von Innenstädten, Quartieren, Stadtteil- und Ortszentren ist eine umfassende und intensive Zusammenarbeit der für einen Standort relevanten Beteiligten aus Stadt, Handel, Gastronomie, Immobilienwirtschaft etc. Notwendig hierfür sind ein gemeinschaftliches Problemverständnis, umfassende Partizipation sowie handlungsfähige und resiliente Strukturen und Verantwortlichkeiten. Benötigt werden gut verzahnte, fest verankerte und hinreichend budgetierte „Macher:innen vor Ort“, die initiierend, koordinierend und vermittelnd zwischen Stadt und Handel sowie anderen (potenziellen) Standortakteurinnen und -akteuren (Immobilien, Gastronomie, Tourismus, Freizeit-, Kultur-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen etc.) agieren. Im Sinne der Kundenzentrierung ist auch eine gezielte Konsumentenpartizipation sicherzustellen.
Digitalisierung: Chancen nutzen – wenn nicht jetzt, wann dann?
Die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verändert die Lebensverhältnisse der Menschen nachhaltig. Auswirkungen hat die Digitalisierung auf alle Lebensbereiche, auch auf das Konsum- und Freizeitverhalten. Dies gilt es bei der Weiterentwicklung von Handelsstandorten und der Optimierung entlang der Visitor Journey zu berücksichtigen. Es gilt, den analog-digitalen Datenraum der Stadt zu nutzen und für eine erfolgreiche Zukunft Services und Systeme zu schaffen, die Konsument:innen Mehrwerte bieten, beispielsweise in Form eines digitalen Alltagsbegleiters oder im Kontext einer neuen, urbanen Intralogistik, die E-Business für lokale Angebote klimaneutral und mobilitätsoptimiert ermöglicht. Entsprechende Projekte sollten umgehend angegangen werden, denn nie zuvor waren Standortakteurinnen und -akteure sowie Konsument:innen so aufgeschlossen gegenüber Digitalisierungsthemen, wie seit Beginn der Coronapandemie.
Angebotslandschaft: Leerstands- und Ansiedlungsmanagement professionalisieren – neue Flächenkonzepte entwickeln und erproben
In vielen Innenstädten, Quartieren, Orts- und Stadtteilzentren sind immer häufiger leerstehende Ladenlokale zu beobachten und es ist zu erwarten, dass sich die Leerstandsproblematik – nicht zuletzt infolge der Coronakrise – in den kommenden Jahren vielerorts deutlich verschärfen wird. Hier gilt es von kommunaler Seite mit Strategien, Methoden und Maßnahmen gegenzusteuern und Leerständen aktiv zu begegnen, andernfalls drohen Trading-Down-Effekte, bei denen aufkommende Leerstände Imageverluste, weitere Leerstände, „minderwertige“ Vermietungen etc. nach sich ziehen und am Ende die Verödung eines Standorts droht. Anzusteuern ist Angebotsvielfalt in Handel und Gastronomie – aber auch anderen Nutzungen ist im Sinne der Multifunktionalität Raum zu geben. Besonders wichtig hierbei: Zum einen die schnelle, korrekte und aussagekräftige Erfassung von akuten und zu antizipierenden Leerständen sowie das passende „Matching“ von Angebot und Nachfrage im Sinne eines aktiven und strategisch verankerten Leerstands- und Ansiedlungsmanagements. Zum anderen das kurz- bis mittelfristige Bespielen von Leerständen sowie die Entwicklung und Erprobung neuer Flächenkonzepte.
Handels- und Standortentwicklung: Aktives Gestalten mit neuen Möglichkeiten und Perspektiven
Die Vielfalt der anzugehenden Themen sowie das Tempo und die Dynamik markt- und kundenseitiger Veränderungen erfordern eine aktive Standortpolitik und -gestaltung getreu dem Motto „Verstehen. Planen. Machen. Teilen.“. Der enorme Handlungsdruck und die erhöhte Komplexität der Standortwicklung legen dabei eine Anpassung und Erweiterung des im Rahmen der Zentren- bzw. Standortentwicklung üblicherweise genutzten Instrumentariums sowie dessen flexible Handhabung nahe. Benötigt werden ferner zielgerichtete Förderung, Modellprojekte und Reallabore, Planungshilfen sowie neue bzw. angepasste Steuerungsinstrumente. Letztere insbesondere im Kontext von Leerständen, Problemimmobilien und der Aktivierung privatwirtschaftlicher Standortakteurinnen und -akteure. Auch die Anpassung und flexible Handhabung diverser rechtlicher Rahmenbedingungen (z.B. in den Bereichen „Nutzungsänderung/Nutzungsmischung“, „Einzelhandelsentwicklung“, „Sonntagsöffnung“ und „Experimentierräume“) ist geboten, um kreative bzw. innovative Wege der Standortentwicklung und -aktivierung (besser) beschreiten zu können. Nicht zuletzt ist es angezeigt, auch im Kontext der Zentren- bzw. Standortentwicklung „größer zu denken“ und „über den Tellerrand“ zu blicken und sich mit übergeordneten gesellschaftlichen „Megatrends“ und neuen Geschäftsmodellen auf kommunaler Ebene auseinanderzusetzen und so neue Perspektiven für Stadt und Handel zu eröffnen.