
Sprach-KI hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und wird zunehmend zu einem zentralen Bestandteil der Kundeninteraktion. Was das für den Handel bedeutet, wie sich die Customer Experience diesbezüglich wandelt und warum man jetzt den Anschluss nicht verlieren sollte, erläutert Ronni Swialkowski, Vice President AI Ecosystem and Strategic Alliances, bei unserem ECC CLUB Mitglied Intershop im Interview.
Die Customer Experience hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Warum kommt gerade jetzt natürliche Sprache als neuer Gamechanger ins Spiel?
In der Vergangenheit war der Handel oft entweder persönlich oder skalierbar – aber selten beides zugleich. Persönliche Beratung gab es im stationären Handel, aber nur sehr vereinzelt online. Das Internet hat vieles ermöglicht, aber eben nicht die direkte, natürliche Interaktion.
Durch Sprach-KI erleben wir eine Rückkehr zur natürlichen Kommunikation, aber auf digitalem Weg. Dies ist keine Rückkehr zur Vergangenheit, sondern ein evolutionärer Schritt. Die Personalisierung erfolgt skalierbar durch gesprochene oder geschriebene Sprache. In Zukunft müssen Kundinnen nicht mehr lernen, wie sie mit Systemen interagieren, sondern die Systeme werden lernen, wie sie mit Menschen sprechen.
Was ist das Besondere an Sprache als Interface und warum bietet sie so viel Potenzial für E-Commerce und die Customer Experience?
Sprache ist die intuitivste Form der Interaktion, schneller als Tippen und direkter als das Navigieren durch Filter und Menüs. Wenn wir natürliche Sprache als Interface nutzen, senken wir Einstiegshürden, schaffen Nähe und machen komplexe Services einfach zugänglich.
Für den digitalen Handel bedeutet das konkret, dass Kundinnen ein Produkt beschreiben können, ohne den Produktnamen kennen zu müssen. Sie können ihr Anliegen oder Verwendungszweck beschreiben und erhalten intelligente Antworten. Auch für interne Anwendungsfälle, wie zum Beispiel im Vertrieb, kann Sprache helfen, Informationen schneller bereitzustellen, Recherchen zu automatisieren oder Kunden-Meetings besser vorzubereiten.
Gleichzeitig ist Sprache auch inklusiv. Wer beispielsweise motorisch eingeschränkt ist oder digitale Interfaces weniger intuitiv bedienen kann, profitiert von einem Sprachinterface. Diese Demokratisierung der Customer Experience birgt riesiges Potenzial für neue Kundengruppen und Zielmärkte.
Wie verändert sich dadurch das Zusammenspiel zwischen Menschen und Maschine gerade im Handel?
Wir beobachten gerade den Übergang von Suchmaschinen zu Dialogsystemen. Statt Keywords eintippen zu müssen, stellen wir Fragen. Anstatt Listen zu durchstöbern, erhalten wir Vorschläge. Dies verändert die Erwartungshaltung der Nutzerinnen und die Anforderungen an die Systeme.
Im Hintergrund wirken dabei oft autonome KI-Agenten, die Aufgaben für die Nutzerinnen eigenständig übernehmen. Im Vordergrund agieren Sprachschnittstellen, wie zum Beispiel Copiloten¹, die zum Gesicht dieser Agenten werden. Sie übersetzen in Echtzeit zwischen Menschen und Maschine. So entsteht ein hybrides Modell, bei dem Menschen mit KI zusammenarbeiten, um bessere Erlebnisse zu schaffen.
Für die Kundinnen sind so Onlineshops und Dienstleistungen auf einmal auch hinsichtlich Beratung rund um die Uhr verfügbar, da die Interaktionen keiner Verfügbarkeitszeiten mehr unterliegen. Auch Telefonwarteschlangen gehören so der Vergangenheit an. Ist ein Sprachmodell einmal trainiert und eingerichtet, kann es in der Regel auch gleich mehrsprachig eingesetzt werden, was einen weiteren Kundenvorteil bietet,
Welche Herausforderungen müssen Unternehmen meistern, wenn sie Sprache und KI sinnvoll einsetzen wollen?
Zum einen bestehen technische Herausforderungen. Sprache ist komplex und muss verstanden, kontextualisiert und sicher verarbeitet werden. Hier spielen Datenschutz, Governance und Nachvollziehbarkeit eine wesentliche Rolle. Hier zögern noch viele Unternehmen, da sie insbesondere bei uns in Deutschland Perfektion erwarten.
Meine Empfehlung lautet aber eindeutig jetzt zu beginnen und den Mut zu haben sich diesem technologischen Trend frühzeitig zu öffnen. Sprachschnittstellen sind inzwischen nicht mehr nur ein nettes Extra, sondern ein echter Differenzierungsfaktor, insbesondere im B2B-Bereich, wo komplexe Fragen einfache Antworten verlangen. Die gute Nachricht ist, dass moderne KI-Technologien keine Neuerfindung des Rads erfordern. Man kann mit kleinen, klar abgegrenzten Anwendungsfällen starten und darauf basierend skalieren. Entscheidend ist, echte Mehrwerte für Nutzerinnen zu schaffen und nicht nur bestehende Prozesse in Sprache zu übersetzen.
Wohin führt diese Entwicklung langfristig und welche Rolle spielt Sprache in der Customer Experience von morgen?
Wir erleben den Beginn eines neuen Paradigmas, in dem Systeme nicht nur auf Eingaben reagieren, sondern uns wirklich verstehen. Das verändert nicht nur den Handel, sondern auch Kommunikation, Beratung und Entscheidungsprozesse grundlegend. Sprache wird zur Brücke zwischen Menschen, Marke und Maschinen und ermöglicht eine natürlichere, proaktivere Interaktion. Agenten begleiten und beraten Nutzerinnen aktiv, sie sind über Sprache erreichbar und agieren zunehmend eigenständig im Hintergrund.
Langfristig werden diese Agenten nicht nur text- oder sprachbasiert auftreten, sondern sich zu audiovisuellen Avataren weiterentwickeln. Was heute noch aufwendig und teuer wirkt, wird in Zukunft genauso selbstverständlich und erschwinglich sein, wie die heutige Mehrsprachigkeit in digitalen Systemen und Sprachmodellen ist. Die Customer Experience wird dadurch nicht nur schneller und personalisierter, sondern auch visuell und auditiv ansprechender. Sie fühlt sich nicht mehr wie ein System an, sondern wie ein echter Dialog auf Augenhöhe.
Wer also wartet, bis alles perfekt ist, riskiert den Anschluss zu verlieren. Denn KI hat das Potenzial, Märkte und Wettbewerb mit hoher Geschwindigkeit zu verändern. Mein Appell lautet daher, mutig zu sein und sich frühzeitig mit dieser technologischen Errungenschaft auseinanderzusetzen. Es lohnt sich, auf die Dynamik und Lernfähigkeit der Modelle zu vertrauen, anstatt auf den vermeintlich perfekten Moment zu warten.
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