B2B-Händler mit Angeboten an Privatpersonen: Ein Trend, der immer mehr Einzug hält, vor allem im Onlinehandel. Grund genug einmal bei den Experten nachzufragen: Stefan Hinterwälder, Head of Sales New Business ERP und Björn Knorn, Global Presales Expert, von unserem Studienpartner FIS, haben uns im Interview Einsichten in die Praxis gegeben und verraten, warum Cross-Channel auch im Großhandel empfehlenswert ist.
Immer mehr Großhändler öffnen ihre Geschäfte, Onlineshops und -marktplätze mittlerweile auch für Privatkund:innen. Doch wie relevant ist der Großhandel bereits für die Privatkundschaft? Und wie interessant ist die Privatkundschaft für den Großhandel?
Stefan Hinterwälder: Großhandel ist nicht gleich Großhandel. Wie auch im Einzelhandel muss differenziert werden, von welcher Branche die Rede ist und ob das entsprechende Warensortiment für den Verkauf an Endkund:innen geeignet ist. Auf den Lebensmittel-Großhandel treffen beispielsweise andere Gegebenheiten zu als auf den technischen Großhandel. Vor allem in baunahen Gewerben ist der Einkauf im Großhandel für nahezu jede:n Endkund:in attraktiv. Und dafür gibt es mehrere Gründe: Im technischen Großhandel, beispielsweise im Bereich Haustechnik findet man eine sehr vielfältige Sortiments-Struktur. Nicht nur die Auswahl an Marken ist weitaus größer, als es der oder die Privatkund:in aus dem Einzelhandel kennt, sondern auch die Auswahlmöglichkeiten an alternativen Sortimenten — Artikel, die im Einzelhandel zum Teil gar nicht angeboten werden. Einerseits ist es diese Produktvielfalt und diese Qualität, die den Großhandel so attraktiv für die Privatkundschaft macht. Andererseits ist es der oft volumenabhängige günstigere Preis als im Baumarkt oder auf einem B2C-Online-Marktplatz. Ein weiterer Pluspunkt ist die passgenaue Beratung: Wer im Großhandel eine spezifische Frage stellt, darf sich auf kompetente Antworten freuen.
Also, bedeutet das für Privatkund:innen „Auf zum Großhändler“?
Björn Knorn: So einfach ist es leider nicht. Noch nicht. Das zeigt auch die Studie “Großhandel meets Privatkundschaft — E-Commerce als Schlüssel zum Erfolg?”, die wir von FIS gemeinsam mit dem ECC erstellt haben. Aus der Studie gingen neben den genannten Vorteilen auch einige Stolpersteine hervor. Einerseits öffnen aktuell nur wenige Großhändler ihre Türen für Endkundinnen und -kunden und es ist noch schwer, hier fündig zu werden, da die Sichtbarkeit der Anbieter noch ausbaufähig ist. Andererseits ist das Einkaufserlebnis nicht immer vergleichbar mit dem im B2C-Bereich: Der Großhandel ist oft nur schwer erreichbar, das Ladengeschäft für findige Handwerkerinnen und Handwerker gestaltet, nicht aber für die suchende Privatperson. Alles in allem ist die Customer Experience weniger convenient als die Endkund:innen sich das für ihr Shopping-Erlebnis wünschen.
Und wie sieht die Situation aus Sicht des Großhändlers aus?
Stefan Hinterwälder: Eine Besonderheit im Großhandel ist oftmals der klassische dreistufige Vertrieb: Der Hersteller verkauft seine Ware an den Großhandel, dieser wiederum verkauft an Handwerker:innen und diese schlussendlich an die Endkundschaft. Anders kommen Privatkund:innen in diesem Vertriebsmodell nicht an die begehrte Ware heran. Nun ist es aber so, dass es gerade in baunahen Gewerken einen akuten Handwerkermangel gibt. Und finden Endkund:innen keinen passenden Handwerker, über den die gewünschte Ware bezogen werden kann, kann die Ware nicht gekauft werden. Ein Problem, das nicht nur die Käufer:innen, sondern auch den Großhändler beschäftigt. So gesehen ist es also auch für den Großhändler sinnvoll, den dreistufigen Vertrieb stellenweise aufzuweichen und sich dem B2C-Geschäft zu öffnen. Ein Trend, der sich bereits deutlich erkennen lässt: Gerade in baunahen Branchen identifiziert der Großhandel die Privatkundschaft als neue Zielgruppe und passt sich deren Bedürfnissen an.
Welche Kanäle bevorzugen Endkundinnen und Endkunden beim Einkauf im Großhandel? Welche Kanäle bietet der Großhandel heute schon für Endkund:innen an?
Björn Knorn: Endkund:innen erwarten im Großhandel genau dieselben Kanäle, die sie aus dem B2C-Shopping kennen und ein ebenso begeisterndes und überzeugendes Einkaufs-Erlebnis.
Unserer Erfahrung nach wird zudem gewünscht, dass Montage und Services mitangeboten werden, wo es Sinn macht. Wer also einen Artikel über den Großhandel kauft, der möchte auch gleich die Montage aus derselben Hand.
Bezüglich der Kanäle muss unterschieden werden, welche Produkte verkauft werden. Fliesen oder Sanitärprodukte beispielsweise werden gerne zuerst im Laden angesehen und angefasst. Auch eine Beratung wird gewünscht, bevor sich Kundinnen und Kunden für den Kauf entscheiden. In diesem Fall macht ein Ladengeschäft Sinn, das speziell für die Bedürfnisse von Privatkund:innen eingerichtet ist.
Wenn weniger beratungsintensive Produkte, wie z.B. Schrauben, angeboten werden sollen, ist der Verkauf über Marktplätze oder den eigenen Online-Shop lukrativ.
Generell ist es für Großhändler empfehlenswert, Endkundinnen und -kunden möglichst viele Kanäle anzubieten und diese miteinander zu verknüpfen. Cross-Channel, also die Wahlmöglichkeit und Verbindung mehrerer Kanäle, ist das A und O für eine erfolgreiche Vertriebsstruktur für den Großhandel im B2C.
Genau wie im B2C-Bereich werden Online-Marktplätze auch im B2B-Handel immer wichtiger. Welche Vorteile bieten Marktplätze und welche Potenziale stecken darin?
Björn Knorn: Ob ein Verkauf über Online-Marktplätze sinnvoll ist, hängt stark davon ab, wie das Produkt beschaffen ist und wie gut es sich versenden lässt. So sind kleinere Teile generell besser für den Verkauf auf Online-Plattformen geeignet als große, sperrige Produkte.
Bedient man als Großhändler allerdings ein Warensortiment, das sich für den Verkauf auf Online-Marktplätzen anbietet, sollte man dieses Potenzial unbedingt nutzen. Kein anderer Kanal ermöglicht es Großhändlern, so schnell ihre Sichtbarkeit zu steigern und neue Kundengruppen zu gewinnen. Der Start mit nur wenigen Produkten ermöglicht einen einfachen Einstieg in die Welt des Online-Handels. Die schrittweise Skalierbarkeit des Sortiments und die damit verbundene Umsatzsteigerung sind weitere Vorteile. Im Gegensatz zum eigenen Online-Shop oder einem stationären POS sind die Investitionen im Online-Marktplatzgeschäft zudem wesentlich überschaubarer.
Blick in die Glaskugel: Wie muss sich der Großhandel zukünftig aufstellen, damit private Kund:innen noch häufiger dort einkaufen?
Stefan Hinterwälder: Für einen Vertriebskanal, der den B2C-Bereich adressiert, muss der Großhändler zunächst prüfen, ob die Öffnung für diese Zielgruppe und die damit verbundene Erweiterung des dreistufigen Vertriebs um B2C-Kontakte für ihn der richtige Weg ist. Hat er die Entscheidung getroffen, seine Pforten für das B2C-Geschäft zu öffnen, ist es wichtig, die bestehende Vertriebsorganisation anzupassen. Das bedeutet, dass Vertriebskanäle wie Online-Shop, Online-Marktplätze, aber auch die Ausweitung stationärer Ladengeschäfte bedacht und umgesetzt werden müssen. Zu beachten ist hierbei vor allem, dass die Customer Experience derjenigen im B2C in nichts nachstehen darf.
Besonders die Logistik muss für den Verkauf an Endkund:innen vorbereitet werden: Logistische Stammdaten und eine entsprechende Lagerausstattung, wie z.B. eine prozessual eingebundene Waage, müssen integriert werden. Im Sinne der geforderten Geschwindigkeit gilt es, Prozesse zu automatisieren und die reibungslose Kooperation mit den Paket-Dienstleistern zu organisieren. Die digitale Retourenabwicklung muss weiter ausgebaut werden — so sollten Endkund:innen beispielsweise die Möglichkeit haben, Retouren-Etiketten selbst zu erzeugen.
Doch bei aller Absicht des Großhandels, B2C-Marktanteile zu erobern: Der Großhandel ist und bleibt an erster Stelle der Anbieter für B2B-Kund:innen.
Die gesamte Studie „Großhandel meets Privatkundschaft – E-Commerce als Schlüssel zum Erfolg“ gibt es zum kostenlosen Download in unserem Shop.